Rote Insel

Rote Insel

Vor 100 Jahren begann in Wien ein bemerkenswertes sozialdemokratisches Wohnungsbauprojekt. Die Faschisten bereiteten dem ein Ende, doch die Gemeindebauten in der Donaumetropole gibt es noch immer

Junge Welt, 19.06.2019

Als am 12. November 1918 die erste österreichische Republik mit dem Namen Deutschösterreich ausgerufen wurde, wollte kaum jemand diesen Staat auf Dauer. Christlich-Soziale, Sozialdemokraten wie auch anfangs die meisten Kommunisten glaubten nicht daran, dass dieser kleine Rest der ehemaligen Donaumonarchie alleine überlebensfähig sein könnte. Der Begriff vom Rumpfstaat machte die Runde. Massenarbeitslosigkeit, eine hohe Inflation, Wohnungsnot und grassierende Krankheiten in den großen Städten verstärkten diesen Eindruck nur noch, und so waren auch die ersten Tage, Wochen und Monate der am Kriegsende so hart erkämpften bürgerlichen Republik keine sonderlich ruhigen. Einen Anschluss an Deutschland und auch eine Zollunion mit dem großen Nachbarn verboten indes die alliierten Siegermächte, um eine künftige Dominanz Deutschlands in Europa besser unterbinden zu können.

So hatte das neue geschrumpfte Österreich seinen eigenen Weg zu finden. Rund um das Land herum, in Ungarn wie auch in Bayern, hatten sich – allerdings nur kurzlebig – Räterepubliken gebildet. Diese, wie auch die Sowjetunion als wohl leuchtendstes Beispiel, verstärkten in Österreich den revolutionären Druck, der sich zwar in keiner starken kommunistischen Partei – diese war kurz vor Ausrufung der Republik als Abspaltung von der Sozialdemokratie gegründet worden –, jedoch in einem starken linken Flügel innerhalb der Sozialdemokratie manifestierte. In Wien wie auch den anderen Industriegebieten des Landes kam es zu Streiks und Demonstrationen, und nach dem Vorbild der oben erwähnten sozialistischen Republiken wurden Arbeiterräte in den Fabriken gebildet.

Vor diesem Hintergrund vermochte die Sozialdemokratie, in der bis 1920 bestehenden Koalitionsregierung mit der Christlichsozialen Partei, der Vorläuferin der heutigen ÖVP, diverse Reformprojekte umzusetzen, welche den Druck von der Straße wie ein Ventil ablassen sollten. Errungenschaften wie der – inzwischen wieder abgeschaffte – Achtstundentag, die Arbeitslosenversicherung, bezahlter Urlaub, die Wahl von Betriebsräten, Mieterschutzgesetze und die Gründung der Arbeiterkammer als institutionelle Interessenvertreterin, stellten eine spürbare Verbesserung der Lebenssituation vieler Menschen dar.

Auf dem Weg zur roten Stadt

Die gravierendsten Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit – Arbeits- und Wohnungslosigkeit sowie die Tuberkulose, oft auch Wiener Krankheit genannt – trafen die Metropole an der Donau am heftigsten. Mit einigen Gesetzen war es dort nicht getan, sondern umfassende kommunalpolitische Veränderungen mussten her. Anfangs war Wien nicht nur die Hauptstadt Österreichs, sondern auch Niederösterreichs, des größten Bundeslandes, dessen Landeshauptmann aufgrund der Mehrheit in Wien ein Sozialdemokrat war. Da der sozialdemokratische Reformeifer allerdings den Widerspruch der christlich-konservativen, oft genug reaktionären Landbevölkerung provozierte, einigte man sich 1920 darauf, aus Wien ab 1922 ein eigenes Bundesland zu machen und St. Pölten in den Rang der Hauptstadt Niederösterreichs, das nun christlich-sozial regiert war, zu erheben. Die Hauptstadt der Republik, seit den ersten freien Gemeinderatswahlen am 4. Mai 1919 sozialdemokratisch, geriet so zur roten Insel, umgeben von der schwarzen, christlich-sozial dominierten Provinz. Die Sozialdemokraten herrschten fast uneingeschränkt.

Um die Auswirkungen des verlorenen Kriegs einzudämmen, aber auch zwecks Ausbau ihrer hegemonialen Stellung in der Stadt, begannen die Sozialdemokraten mit einem fast schon revolutionär anmutenden kommunalpolitischen Investitions- und Infrastrukturprojekt, heute bekannt unter dem Schlagwort »Rotes Wien«. Binnen weniger Jahre wurden mehr als 60.000 Gemeindebauwohnungen, diverse Bäder, Kliniken, Schulen und Freizeiteinrichtungen errichtet sowie der öffentliche Verkehr aufgebaut. Finanziert wurde der Umbau mittels der sogenannten Breitner-Steuern, benannt nach dem damaligen Finanzstadtrat Hugo Breitner. Die Bauvorhaben sollten eben nicht, das war sein Anliegen, durch Kredite finanziert werden, denn das hätte eine Abhängigkeit von den Banken bedeutet und somit den politischen Handlungsspielraum verkleinert. Breitner führte Luxussteuern auf Automobile, Pferde, Hauspersonal, Restaurants, Kaffeehäuser, Bordelle und selbst auf Hunde ein. Erstmals wurde auch eine gestaffelte Wohnbausteuer erhoben, welche zuvorderst Villen- und Hausbesitzer traf, Arbeiterwohnungen indes kaum belastete. Konservative liefen gemeinsam mit Klerikalen und den Faschisten, die langsam, aber sicher ihr Haupt erhoben, Sturm gegen diese Maßnahmen. Obschon die Auswirkungen von Breitners Umverteilungspolitik begrenzt blieben, war er antisemitischen Angriffen ausgesetzt, seine Politik wurde mehrfach als »Steuerbolschewismus« bezeichnet.

Volkswohnungspaläste

Zum bis heute die Stadt prägenden Aushängeschild des Roten Wien wurde der sogenannte Gemeindebau. Dessen Basis war die genannte städtische Steuerpolitik, hinzu kam allerdings, dass mit der bereits im Kriegsjahr 1917 eingeführten »kaiserlichen Verordnung über den Schutz der Mieter« die Mieten quasi eingefroren worden waren und somit der private Wohnungsbau unrentabel war.

Zwischen 1925 und 1934 errichtete die Stadt Wien 63.934 preiswerte Wohnungen in insgesamt 382 Gemeindebauten. Die oftmals großen weithin sichtbaren Hofanlagen, damals häufig »Volkswohnungspalast« genannt, folgten dabei allerdings keiner festgelegten Struktur und Ordnung. Freilich, gerade die großen Bauten zeichnen sich durch Brunnen, grüne parkähnliche Innenhöfe, Kindergärten, Apotheken, Bibliotheken, Waschküchen und andere infrastrukturelle Einrichtungen aus, die sie fast zu Städten in der Stadt werden ließen.

Auch wenn die Sozialdemokraten keine feste architekturtheoretische Vision besaßen, wussten sie immerhin genau, was sie nicht wollten: Das neue Wohnen sollte keine dunklen Ecken und Zimmer mehr kennen, alles sollte lichtdurchflutet sein. Toi­letten und Badezimmer sollten nicht mehr zwischen sämtlichen Bewohnern im Gang oder gar im Haus geteilt werden müssen, und die Höfe nicht abgeschlossen, sondern öffentlich zugänglich und nah an Infrastruktureinrichtungen sein. Der Karl-Marx-Hof ist das wohl berühmteste Beispiel der Wiener Gemeindebauten.

Bis heute kommen diese einheitlichen Grundzüge den Wienern zugute, denn etliche öffentliche Flächen blieben vom Konsumzwang ausgenommen, das dichte öffentliche Verkehrsnetz bietet nach wie vor eine gute Anbindung. Bemerkenswert ist, dass diese Weise des öffentlichen Bauens dem damaligen Trend gegenüberstand. Berlin und Frankfurt am Main beispielsweise favorisierten, wie die meisten Städte zu jener Zeit, aufgelockerte Siedlungen in Zeilenbauweise gemäß den Standards der Siedlerbewegung, während in Wien Superblocks dominant wurden. Begründet wurde dies in der Forschung oft damit, dass diese Monumentalisierung auf die in Österreich so präsenten spätbarocken Stiftshöfe zurückgehe. Für zeitgenössische Kritiker jedenfalls galt dies als Zeichen rückschrittlicher, veralteter Bauweise und gerade für Marxisten als Ausdruck der Kleinbürgerlichkeit der Wiener. Retrospektiv kritisierte der italienische Architekturhistoriker Manfredo Tafuri 1980 die »Ideologie der Form«, die keine Lösungen biete, nannte die Bauweise »ein tragisches Heldenepos« und eine »Kriegserklärung ohne jede Hoffnung auf den Sieg«.

Kindergärten und Arbeiterolympiade

Neben dem sozialen Wohnungsbau wird inzwischen auch die Architektur für die Kinder des Roten Wien wiederentdeckt. Heime, Kindergärten und Schulen spielten in der sozialdemokratischen Politik der Zwischenkriegszeit eine große Rolle. Einerseits lag dem Wohlfahrts- und Gesundheitsstadtrat Julius Tandler daran, einkommensschwache Familien durch kostenfreie Fürsorgeeinrichtungen zu entlasten, andererseits waren auch Eingriffe in die Erziehung der zukünftigen Generation des Landes erwünscht. Erst 1924 wurde der erste Kindergarten des Roten Wien errichtet, doch 1930 zählte man derer bereits einhundert. Eltern konnten ihre Kinder schon in den frühen Morgenstunden in die Einrichtungen bringen, wo sie verköstigt, medizinisch betreut und von geschulten Pädagogen beaufsichtigt wurden. Grünflächen, Planschbecken und eigene Spielterrassen zählten zum Standard. Ein Vorzeigeprojekt wurde der 1932 im Goethehof errichtete Montessori-Kindergarten. Die zweigeschossige Einrichtung war mit farblich unterschiedlichen kindgerechten Möbeln ausgestattet und bot neben einem Garten auch Holzspielzeug auf dem pädagogischen Stand der Zeit.

Bei der Pflichtschule war den Sozialdemokraten daran gelegen, die Klassenunterschiede zu verringern. Nach dem Ausscheiden seiner Partei aus der Bundesregierung 1920 versuchte der Schulreformer Otto Glöckel in Wien, neben der vierjährigen Volksschule, die der deutschen Grundschule entspricht, auch eine allgemeine Mittelschule für die zehn- bis 14jährigen zu etablieren. Zwischen 1922 und 1927 lief eine Versuchsphase für dieses Modell an sechs Schulen Wiens, ehe mit der christlich-sozialen Regierung ein bundesweiter Kompromiss gefunden wurde, der zwar weitere Reformen unmöglich machte, aber das erreichte immerhin sicherte.

Bis heute ist die Sozialdemokratie in den Volkshochschulen dominant. Diese wurden als Mittel der Bildung der Volksmassen bereits während der Kaiserzeit trotz erheblichen Widerstands unter der Bezeichnung »Volksheim« etabliert. In der ersten Republik begann dann ihr Aufstieg zu wichtigen Bildungseinrichtungen der Arbeiterklasse, die jedoch ihrem eigenen Anspruch gemäß keine offene Parteipolitik betreiben, sondern nur der Wissensvermittlung dienen sollten. Diese Bildung sollte, so der Gründungspionier Ludo Moritz Hartmann, »gegen jegliche autoritäre Weltanschauung und geistige Knechtung« immunisieren und das Proletariat zum »Hüter der Demokratie und (…) Verächter der Demagogie« machen. Erfüllt hat sich diese kühne Hoffnung nicht, doch ist ein Arbeiteranteil von etwa 40 Prozent zum Ende der 1930er Jahre hin ein durchaus beachtliches Ergebnis.

Nicht nur über Wohnen und Bildung wollte das Rote Wien seine Bürger zum »Neuen Menschen« erziehen, auch die Freizeitgestaltung geriet in den Blick der eifrigen Reformer. Der Sport schien dabei als erstrangiger Bereich einer kollektiv gestalteten Freizeit. Sportgroßveranstaltungen waren im Roten Wien eine Selbstverständlichkeit, Arbeiter- Turn- und Sportfeste fanden dabei an zentralen Stätten statt, etwa am Rathaus- oder am Heldenplatz. Höhepunkt war zweifellos die »2. Arbeiterolympiade« der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale. Sie wurde 1931 im steirischen Mürzzuschlag sowie in Wien abgehalten, wo das Praterstadion, heute Ernst-Happel-Stadion, feierlich eröffnete wurde. 25.000 Sportler wetteiferten eine Woche lang in 177 Disziplinen miteinander. Höhepunkte waren ein Massenfestspiel, bei dem 3.000 Athleten den Aufstieg der Arbeiterbewegung bis hin zum Zusammenbruch des Kapitalismus künstlerisch darstellten, sowie ein Aufmarsch von mehr als 100.000 Menschen für Abrüstung und Frieden.

Kleinere Veranstaltungen wie etwa Turnfeste oder Fußballmatches wurden von Vereinen wie der Arbeitsgemeinschaft für Sport und Körperkultur (ASKÖ) organisiert, die bis heute besteht. Obwohl die der Sozialdemokratie nahestehenden Organisationen damit eine große Bandbreite des alltäglichen Lebens abdeckten, hatten Funktionäre oft ein gespaltenes Verhältnis zum Massensport. Otto Bauer, einer der führenden Theoretiker des reformorientierten Austromarxismus, etwa befürchtete, die Jugendlichen würden »das bisschen mehr Rechte und bisschen mehr Zeit nur zum Besuch von Fußballwettspielen und Kinos« nützen, anstatt für politische Arbeit. Die Partei müsse in ihnen »die Freude erwecken am größeren, gewaltigeren Wettkampf. (…) Dafür, ob die Arbeiterklasse oder die Kapitalistenklasse in dem Match der Geschichte den Cup erobert.«

Ende und Neubeginn

Zum Ende der 1920er Jahre hin wurden die Auseinandersetzungen zwischen den paramilitärischen Einheiten der beiden Großparteien immer heftiger. Auf seiten der Sozialdemokratie kämpfte der Republikanische Schutzbund, während die Heimwehrverbände der christlich-sozialen Partei nahestanden. Die großen Höfe entwickelten sich gerade während des österreichischen Bürgerkriegs, also der Februarkämpfe von 1934, zu kleinen Festungen, die vom Schutzbund erbittert mit Waffengewalt verteidigt wurden. Von 1933 an regierte die christlichsoziale Partei zunehmend diktatorischer. Der austrofaschistische Ständestaat, zunächst unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß errichtet und nach dessen Ermordung durch die Nationalsozialisten von seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg vollendet, verbot 1934 schließlich die Sozialdemokratie und beendete damit die Reformprojekte des Roten Wien.

Das große Reformprojekt, hervorgegangen aus historisch einmalig günstigen Umständen, war damit beendet. Prominente Vertreter der Sozialdemokratischen Partei flüchteten in die Tschechoslowakei, nach Jugoslawien oder auch Frankreich, vor der drohenden Internierung in den Lagern der Austrofaschisten bzw. nach dem »Anschluss« 1938 in jenen der Nazis. Der bereits genannte Julius Tandler floh nach Moskau, wo er auf Einladung der sowjetischen Regierung an der Reform des Gesundheitswesens mitwirken sollte, jedoch kurz nach seinem Eintreffen verstarb.

Nach dem Krieg und mit Beginn der zweiten Republik konnten die Sozialdemokraten an ihre Wahlerfolge in Wien anknüpfen. Die Vorzeichen indes waren diesmal andere. Die Sowjetunion galt nun nicht mehr als Vorbild. Trotz des großen Anteils der österreichischen Kommunisten an der Befreiung des Landes bildete der Antikommunismus den Kitt, der die fragile österreichische Nachkriegsgesellschaft zusammenhielt. Zwar wurden auch weiterhin unzählige Gemeindebauten errichtet – bis heute betreibt die Stadt kommunalen Wohnungsbau, und inzwischen leben etwa 500.000 Menschen in ungefähr 2.300 Gemeindebauten – doch von der Erziehung zum neuen sozialistischen Menschen war keine Rede mehr.

Das Rote Wien verkam zur Chiffre einer glorreichen Zeit, deren linker und progressiver Gehalt noch gelegentlich beschworen wird. Durchaus mit Erfolg, denn einerseits können die bis heute vergleichsweise guten Wahlergebnisse der SPÖ zum Teil auf die früheren Errungenschaften zurückgeführt werden, andererseits konnte die Partei das kritische Potential linker Bewegungen zumeist recht erfolgreich absorbieren oder gar nicht erst aufkommen lassen. Auch zum hundertjährigen Jubiläum erinnert man sich feuchten Auges an jene seligen Zeiten, die – so wird jedenfalls häufig suggeriert – immer noch zum Greifen nahe seien.

Nebst diversen Führungen an historischen Orten widmet sich eine umfassende bis Anfang 2020 laufende Ausstellung im Wien-Museum den Jahren 1919 bis 1934. Obschon beispielsweise der Einfluss der Rätebewegung hier nahezu gänzlich verschwiegen wird, ist die Fülle der Exponate durchaus beeindruckend. Man glaubt kaum, wie viele Objekte – von Fahnen über Hemden und Trompeten bis hin zu Broschüren und Agitpropplakaten – den Sturm der Zeiten überstanden haben. Dem geschichtsbewussten Besucher wird schnell klar, welches Potential der Faschismus hier zerstört hat.