Interview mit Gregor Gysi

»Ich finde, die Jugend ist zu lahm«

Volksstimme, Januar 2017

Am 17. Dezember 2016 wurde Gregor Gysi zum neuen Präsidenten der Partei der Europäischen Linken (EL) gewählt. Volksstimme Redakteur Christian Kaserer traf den Politiker der deutschen Partei Die Linke vorab und sprach mit ihm über Probleme der Linksparteien in Europa, den Aufstieg des Rechtspopulismus, Linkspopulismus, wie man Klassenkampf wieder »sexy« machen kann und über seinen Plan für die EL.

Kritiker werfen gerade jungen linken Gruppierungen vor, sich vornehmlich um sogenannte Orchideenthemen zu kümmern. Sie sollen den Kontakt zu den alltäglichen Sorgen arbeitender Menschen verloren haben. Stimmt das?
Gregor Gysi: Mich stört an den jungen Menschen etwas ganz anderes: dass sie nicht rebellisch genug sind. Wenn sie rebellischer wären, würden sie Auseinandersetzungen mit den Erwerbstätigen, Arbeitslosen und anderen suchen und die auffordern, auch rebellischer zu werden und sich Dinge nicht einfach so bieten zu lassen. Ich finde, die Jugend in Europa und gerade in Deutschland und Österreich ist zu lahm. Und eigentlich müssen sie uns Alte nerven. Das ist doch eure Aufgabe, liebe Jugend. Und zwar so, dass wir sagen: »Jetzt kommen die schon wieder und nerven!« Denn Schritt für Schritt ändern wir dann doch Verhältnisse.
Junge Menschen muss das Schicksal der Arbeitenden und Arbeitslosen und der sozial schwachen Gruppen interessieren. Es ist wichtig, dass die Jugend sich für ökologische Nachhaltigkeit einsetzt und dass sie darin viel stärker als meine Generation involviert ist, aber niemals darf das ohne die soziale Frage passieren. Es gibt nämlich ein elitäres ökologisches Denken das heißt, man macht das Autofahren ganz teuer. Das bedeutet, man kann es sich selbst leisten und verjagt andere, die es sich nicht leisten können, von der Straße. Das ist nicht die Lösung, also muss ein anderer Weg gefunden werden.

Populismus als Chance?

In Österreich forderte der grüne Nationalratsabgeordnete Peter Pilz »Linken Populismus«. Was das sein soll, ließ er allerdings offen. Brauchen wir das wirklich?
Da kann man fragen, was man darunter versteht. Ich möchte auch populär sein, aber Populismus ist für mich etwas ganz anderes: dass ich einfache überzeugende Antworten gebe, von denen ich weiß, dass sie falsch sind. Das darf man nicht. Aber übersetzte, einfache Antworten wenn sie richtig sind, das ist meine Linie.

Kann man den Klassenkampf attraktiv verpacken?
Ja. Ich nenne ein Beispiel: Als der Bund die Absicht hatte, die Straßen zu verkaufen, habe ich folgendes gesagt: »Lieber Herr Schäuble, ich muss Ihnen in diesem Fall drohen. Wenn Sie die Straßen verkaufen, werde ich mir die größte Mühe geben, die Straße zu kaufen, in der Sie wohnen. Und wenn Sie dann nach Hause wollen, wird das für Sie sehr teuer und es wird peinlich für Sie. Es ist ja meine Straße, ich entscheide, wie sie heißt. Und Sie werden dann überall angeben müssen, dass Sie ›Zum Gysi Nr. 1‹ wohnen.« Das ist ein unterhaltendes Moment, ist nicht schlecht verpackt und den Leuten wird klar, dass es einfach nicht geht!
Das ist ja das Entscheidende. Wenn ich es theoretisch sage, merkt es sich keiner. Und so erkennen die Leute, dass das ja wirklich nicht geht, denn ich könnte ja drei Wochen später die Straße wieder verkaufen und dann würde sie immer und immer wieder umbenannt werden. Das ist es, was wir können müssen: Antworten finden, durch die die Leute merken, dass da etwas nicht stimmt und diese Antworten allerdings auch so formulieren, dass sie merkfähig sind.

Steht ein solches Konzept hinter dem Aufstieg des Rechtspopulismus?
Nicht nur, denn Tatsache ist, dass die Strukturen vollkommen unübersichtlich geworden sind: Die Leute mögen die EU nicht und erkennen, dass sie unsozial und undemokratisch ist. Das erkennen die Rechten und stellen sich hin und behaupten, wenn wir wieder »zu Hause« sind, ist alles viel gemütlicher. Abschottungspolitik ist das, was sie empfehlen. Und hier müssen wir zeigen, dass das falsch ist. Das funktioniert auch nicht. Wir haben eine globale Wirtschaft und das sorgt für ein Zusammenrücken der Menschen. Wir müssen zeigen, dass diese Antworten auch irreal sind. Eine Mauer um Europa verschafft dir vielleicht eine Pause. Aber in dieser Pause wirst du unfähig, die Probleme zu lösen. Nach anderthalb Jahren wird sie von Millionen gestürmt und die Situation ist viel schlimmer als vorher. Das ist genau der Populismus, den ich ablehne: einfache, falsche Antworten.
Einfache und richtige Antworten mag ich. Aber das schaffen wir Linken in der Regel auch nicht, da wir ja schon in der Zwischenüberschrift 18 Fachbegriffe unterbringen müssen. Daher können die Rechten Boulevardzeitung und die Linken nicht. Die erreichen damit Massen von Leuten, an die wir mit unseren komplizierten Aufsätzen nicht herankommen.

Was der Kapitalismus nicht kann

Es wird immer wieder von einer Industrie 4.0 oder einer Arbeit 4.0 gesprochen. Kann es auch einen Realsozialismus 4.0 geben?
Nein. Ich bin allergisch gegen den Begriff Realsozialismus, weil dieser in der DDR existierte und besagen sollte, dass das real ist und nichts mit Karl Marx zu tun hat. Abgesehen davon, glaube ich an etwas ganz anderes: Der Kapitalismus kann bestimmte Dinge. Das muss auch die Linke sehen. Er kann zum Beispiel eine effiziente Wirtschaft vorbringen. Er kann demokratisch sein, aber er muss nicht demokratisch sein. Er kann eine Topwissenschaft und eine Topforschung hervorbringen. Und er bringt eine Topkunst und eine Topkultur hervor. Die ist zwar kritisch mit ihm, aber er bringt sie ja hervor.
Was kann er nicht? Er kann keinen Frieden sichern, weil an einem Krieg zu viel verdient wird. Er kann keine soziale Gerechtigkeit herstellen und er kann auch keine ökologische Nachhaltigkeit herstellen, wenn es Wirtschaftsinteressen widerspricht. Nur wenn es Wirtschaftsinteressen entspricht.
Dazu ein kleines Beispiel: Alle Verkehrssicherheitsvorschriften in Deutschland die dazu führen, dass du mehr kaufen musst, gehen durch im Bundestag. Katalysator und andere Sachen gehen immer durch. Sobald die Industrie dadurch verliert – zum Beispiel eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung – hast du keine Chance. Und deshalb glaube ich, dass in demokratischen Ländern ein Transformationsprozess stattfinden wird. Eine Diktatur wirst du nur mit Gewalt los, weil sie einen Transformationsprozess nicht zulässt.

Wohin wollen Sie mit der Partei der Europäischen Linken gehen?
Das kommt darauf an, was sie mit mir vor hat. Ich bin ja schon einmal im Dezember ’89 Parteivorsitzender geworden und das war viel schwieriger. Pierre Laurent hat eine Struktur aufgebaut und die müssen wir jetzt nutzen. Wir müssen ein Wirkungsfaktor gegen die Rechten werden und den führenden Politikern in Europa klar machen, dass sie dabei sind, die EU kaputt zu machen. Wir dürfen niemals an der Seite von Frau Le Pen mitwirken, die EU zu zerstören. Das ist nicht unsere Aufgabe. Und wir müssen immer wieder dafür streiten, dass die EU viel solidarischer, sozial gerechter, demokratischer, ökologisch-nachhaltiger, transparenter, unbürokratischer und nicht militärisch wird. Und vor allem müssen wir den Süden ganz anders aufbauen. Deutschland bekam nach ’45 einen Aufbauplan: den Marshallplan. Das kann auch Südeuropa gebrauchen. Dafür ist es auch jetzt noch nicht zu spät. Und dafür werden wir streiten. Ich möchte, dass wir bekannter, wirksamer, rebellischer und leidenschaftlicher werden.