Grauen im Bergidyll

Grauen im Bergidyll

Im österreichischen Pinzgau mussten während der Nazizeit KZ-Häftlinge schuften

Junge Welt, 26.01.2019

Der österreichische »Nationalpark Hohe Tauern« ist weithin für seine pittoresken Landschaften bekannt. An heißen Tagen bieten die niedriger gelegenen Wälder Schutz vor der glühenden Sonne. Sobald sie die Baumgrenze überschreiten, weht den höher hinaus wollenden Gipfelstürmern meist eine kühlende Brise entgegen. Fällt der erste Schnee, verwandeln sich Hänge mit ihren kleinen ausgetretenen Bergwegen in großflächige weiße Pisten für Gäste aus aller Welt. Sommers wie winters lockt diese Szenerie Tausende Wanderer und Skifahrer an, die ein Naturidyll suchen. Das Image der unschuldigen Naturlandschaft wird von den Einheimischen bewusst gepflegt, spült das doch jährlich beachtliche Summen in die Kassen der Hoteliers und Händler. Nur wenigen Touristen ist bekannt, dass im Salzburger Pinzgau mehrere Stauseen die vermeintlich technisch kaum erschlossene Region mit Strom versorgen. Und selbst die Ansässigen geben sich erstaunt, wenn man ihnen sagt, dass für deren Bau unter faschistischer Fahne einmal Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge zum Einsatz kamen.

Schon 1913, also zur Zeit der habsburgischen Donaumonarchie, plante man mehrere Kraftwerke im Pinzgauer Stubachtal zu errichten, um die Wasserkraft der Tauernregion nutzbar zu machen. Obwohl nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs russische Kriegsgefangene bereits Zufahrtswege für den Kraftwerksbau ausheben mussten, ließ man das Projekt wieder fallen. Die marode Monarchie konnte sich die erforderlichen Ausgaben nicht leisten, und außerdem waren die im Osten des Habsburgerreiches gelegenen Kohlefelder leichter und billiger zu erschließen.

Ein erstes Kraftwerk, am zur Gemeinde Uttendorf gehörenden angestauten Tauernmoossee, wurde zwischen 1926 und 1929 von den neu gegründeten Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) errichtet. Der erzeugte Strom sollte die örtlichen Bahnstrecken bis hinüber nach Tirol versorgen. Die deutsche Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) erstellte 1928 erste Pläne für den Bau eines monumentalen Tauernkraftwerks, welches die gesamte Wasserkraft der Tauernregion nutzbar machen würde. Über Kanal- und Stollensysteme sollten aufgestaute Bergseen zu einem Kraftwerk in der Ortschaft Kaprun geleitet werden. Die Gesamtleistung hätte das Dreifache des jährlichen Bedarfs der ersten österreichischen Republik ausgemacht. Der Überschuss wäre, wie schon bei Kraftwerken in Tirol und Vorarlberg, nach Deutschland verkauft worden, um von der dortigen Industrie genutzt zu werden. Trotz intensiver politischer Unterstützung seitens des Landes Salzburg verwarf das Unternehmen seine Pläne aufgrund zu hoher Kosten jedoch wieder.

 

Ein Mustergau

Den Nazis gefiel ein solch gigantomanisches Projekt naturgemäß sehr gut, und so belebten sie es wieder, wenn auch in leicht abgespeckter Form. Am 16. Mai 1938, also bereits zwei Monate nach dem Anschluss des austrofaschistischen Österreichs an Hitlerdeutschland, machte Hermann Göring vor Ort den ersten Spatenstich für die Tauernkraftwerke und Stauseen in Kaprun. Obwohl man Göring sogar eine Jagdhütte in den Bergen errichtet hatte, kam es bei seinem Besuch offenbar zu solchen Verstimmungen, dass er Kaprun und den Pinzgau künftig nur im nötigsten Fall aufsuchen sollte. Die örtliche Nazipartei hatte wohl dabei versagt, eine ordentliche Zahl Anhänger für das Propagandaereignis zu versammeln. Das mag verwundern, galt doch gerade der Pinzgau während der NS-Zeit als »Mustergau« deutscher Kultur. Bereits vor dem Anschluss waren die Nazis hier zahlenmäßig stark vertreten. So wählten 1932 bei den letzten Salzburger Landtagswahlen vor Austro- und Hitlerfaschismus im Pinzgau 25,3 Prozent der Abstimmenden die umgangssprachlich so bezeichnete »Hitlerbewegung«.

Mit der Eingliederung der ÖBB in die Deutsche Reichsbahn wurden die Arbeiten am Kraftwerk Kaprun und die Stauung des auf 2.300 Metern gelegenen Weißsees als Reservoir die zwei wichtigsten Projekte der folgenden Jahre. Gerade letzteres erwies sich als überaus schwieriges Unterfangen. Der kurze Sommer, die kalten Nächte, die schnellen Wetterumschwünge sowie die Nähe zum Gletscher und die fehlenden befestigten Wege ließen die Arbeiten an der ersten hochalpinen Baustelle des »Dritten Reiches« nur langsam voranschreiten. Die 900 Meter zwischen der letzten Straße am Speichersee Enzingerboden und dem Weißsee mussten mit einem dreistündigen Fußmarsch oder sogar über eine schwindelige Materialseilbahn zurückgelegt werden. Neben den Einheimischen arbeiteten hier 1938 zunächst noch freiwillig angereiste Gastarbeiter aus Italien, Kroatien, der Slowakei und Ungarn. Mit Kriegsbeginn allerdings änderte sich das schnell. Wie behördlichen Korrespondenzen zu entnehmen ist, befanden sich bereits 1939 für den Kraftwerks- und Stauseebau im Stubachtal 850 Deutsche im Einsatz, aber auch 500 polnische Kriegsgefangene, 98 Juden und 700 »ausländische Arbeiter«.

Während des Krieges wurde die Energieknappheit im »Dritten Reich« immer spürbarer. So beschloss man neben dem Anstauen des Weißsees auch den Ausbau des bereits bestehenden Stausees Tauernmoossees – sowie dessen militärischen Schutz durch ein halbes Dutzend Maschinengewehrnester. Immer mehr Zwangsarbeiter wurden in einfachste Baracken hineingepfercht. Einige wenige durften sich am Weißsee in der 1873 vom Alpenverein errichteten Rudolfshütte in der Nähe ihrer Bewacher aufhalten. Wurde im kurzen Sommer an der Staumauer oder an befestigten Wegen gearbeitet, so mussten die Häftlinge während des langen kalten Winters untertage in Stollen schuften. Die meisten von ihnen hatten keinerlei Erfahrung im Stollenbau, und nicht selten fehlte es an ordentlichem Gerät. Erfrierungen, Unfälle und Tote waren besonders im hochalpinen Gelände an der Tagesordnung. Trotz Schneemassen von bis zu zwölf Metern gelang im März 1942 der Durchbruch eines ersten Stollens am Tauernmoossee. Ein Moment, der propagandawirksam von Kameras aufgezeichnet und bei besserem Wetter von den Nazis vor Ort gefeiert wurde.

Zu wenig Hilfe

Nicht allen Einheimischen gefiel, was sich vor ihrer Haustür zutrug. So gibt es vereinzelt Berichte von Tourengehern, die den meist ausgemergelten Gestalten Brot und andere Lebensmittel, die sie bei sich trugen, zusteckten. Wer von den Aufsehern dabei erwischt wurde, dem drohte eine sofortige Verhaftung – waren doch Kontakt, Hilfe oder Bekundungen von Mitleid streng untersagt. Die 59 Jahre alte Bergbäuerin Maria Eder beispielsweise schrieb einen Brief an die Salzburger Landeszeitung, worin sie sich über die Zustände, unter denen die Gefangenen litten, beschwerte. »Eine solche Behandlung [der Gefangenen] ist eine Schande für uns Deutsche«, schreibt sie darin. Eder, Mutter von 13 Kindern, Trägerin des goldenen Mutterkreuzes und Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, also offenbar eine engagierte Nationalsozialistin, wurde kurz darauf von der Gestapo verhaftet. Auch ein Schaffner der Pinzgauer Lokalbahnen, welcher mit polnischen Häftlingen sprach und ihnen einen Sitzplatz im Zug verschaffte, kam schnell in Konflikt mit dem Regime. Das Gros der Einheimischen, Wanderer und Bergbauern ignorierte daher die vor ihren Augen verhungernden Gefangenen, deren Zahl 1942 bereits nahezu 2.000 erreichte.

Im Zuge der sich 1943 abzeichnenden Kriegswende änderte sich die Strategie der Nationalsozialisten gerade am Weißsee. Waren hier zunächst Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus über 20 Nationen eingesetzt worden, entwickelte sich die Baustelle Weißsee von nun an zu einem selbständigen Außenlager des KZ Dachau. Den sich hier engagierenden Firmen kam das sehr gelegen, denn KZ-Häftlinge mussten nicht bei den Krankenkassen versichert werden, was Kosten einsparte.

Die in Viehwaggons ohne Nahrungsmittel und Wasser herantransportierten Menschen wurden, sofern sie den Aufstieg in eisige Höhen überlebt hatten, in drei rustikalen Baracken untergebracht. SS-Männer und Wehrmachtssoldaten bewachten die hier auf engstem Raum zusammengesperrten insgesamt 450 Häftlinge. Neben politischen Gefangenen aus Österreich stammten diese zumeist aus Belgien oder Frankreich. Nicht nur die mit Stacheldraht eingezäunten Baracken ließen Fluchtversuche illusorisch erscheinen, sondern ebenso die über 3.000 Meter hohen Berge mit ihren Gletschern. Sollte es ein Häftling doch versuchen wollen, so machten es den Soldaten rote Punkte auf der spärlichen Kleidung leichter, auch aus größerer Entfernung tödlich zu treffen. Trotz der selbst in Sommernächten hier nicht ungewöhnlichen Minusgrade hatten die Häftlinge hier nur die gleichen dünnen Kleidungsstücke wie in Dachau. Zeitungspapier musste als zusätzlicher Schutz gegen die Kälte reichen. Einzig die Schuhe unterschieden sich. Die Deutsche Reichsbahn stellte– anstatt der üblichen Holzschuhe – schwere Arbeitsschuhe zur Verfügung, deren tadelloser Zustand täglich beim so bezeichneten Abendappell überprüft wurde. Zwölf bis dreizehn Stunden durchgehende Arbeit gehörten bei einer Scheibe Brot oder einer Suppe zum erschreckenden Alltag der Gefangenen. Da der Stollenbau bereits stark vorangeschritten war, kamen die Häftlinge aus Dachau bei Wegarbeiten oder im Steinbruch zum Einsatz. Letztere Tätigkeit galt als besonders schwer, weshalb hier keine Zwangsarbeiter, sondern nur KZ-Insassen eingesetzt wurden. Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen dort schuften mussten und auf diese Art ermordet wurden, gibt es bis heute nicht.

Vom KZ zum »Austria Dörfl«

Am 6. April 1945 entschied die Deutsche Reichsbahn, die Bauarbeiten am Weißsee zu beenden. Geschlossen wurde das Lager allerdings erst mit der Ankunft der US-Amerikaner im Pinzgau, am 8. Mai 1945. Bereits ein Jahr später beschlossen die wieder gegründeten Österreichischen Bundesbahnen, den Bau am Kraftwerk nun abschließen zu wollen. Mitarbeiter der ÖBB fanden das KZ Weißsee so vor, wie es 1945 zurückgelassen worden war. Mit vergrößerten Baracken und nach Abbau des Stacheldrahts diente es nun als Unterkunft für die eigenen Arbeiter.

Nicht nur die Baracken, auch die Baupläne der Nazis wurden übernommen. Man machte da weiter, wo man 1945 aufgehört hatte. 1952 konnte stolz der Abschluss der Bauarbeiten am Weißsee verkündet werden. Dessen Stauung jedoch hatte zur Folge, dass die historische Rudolfshütte abgerissen werden musste. Als Entschädigung erhielt der Alpenverein, dem die Hütte gehörte, die drei Baracken des früheren Konzentrationslagers. Freilich lässt sich mit diesen wenig Geld verdienen, weshalb man sich dazu entschloss, ihnen den beschaulichen Namen »Austria Dörfl« zu geben. Wo einst KZ-Insassen verhungert waren, bediente der Alpenverein Wanderer nun mit üppigen lokalen Speisen. Von diesem Dörfl indessen sind heutzutage nur noch Ruinen übrig, da man es 1958 zugunsten des Neubaus der Rudolfshütte sprengte. Sie entwickelte sich seither zu einem beliebten und bekannten Ausflugsziel in den österreichischen Alpen. Aufgrund ihrer Lage quartierte die US Army dort in den 1950er Jahren zeitweilig eines ihrer alpinen Ausbildungszentren ein.

Heute gehört die Rudolfshütte einem privaten Unternehmer, der sie mit ihrem einzigartigen Ausblick auf einen hochalpinen KZ-Stausee zu einem Hotel umfunktionierte. Von hier aus bringen Lifte im Winter die Skifahrer und Snowboarder auf höhere Pisten und im Sommer rasten Wanderer hier, ehe sie sich zu einem Gipfel aufmachen. Mit der Vergangenheit setzt man sich nur ungern auseinander. Und so ist das KZ-Außenlager Weißsee eines der aus dem historischen Gedächtnis am besten verdrängten Konzentrationslager Österreichs. Lediglich 2001, als Teile des Stacheldrahts entdeckt wurden, sowie 2005 mit der Einweihung einer Gedenktafel am Stausee, wurde das kollektive Vergessen kurzzeitig unterbrochen. Aufmerksame Wanderer erinnern seitdem die dort eingravierten Worte des Zeitzeugen und KZ-Insassen Martin Wolff daran, was sich hier zutrug: »Jeden Tag haben wir mehrere Tote. Denn wer kraftlos zusammenbricht, bleibt liegen und erfriert.«